let's write emotions

Gefühle fühlen und so…

Rollenspiel

In meinem bisherigen Leben habe ich bereits die Gestalt verschiedenster Persönlichkeiten angenommen. Ich weiss wie das jetzt klingt, aber nein, ich bin weder sehr alt, noch leide ich unter einer Dissoziativen Identitätsstörung. Auf jeden Fall nicht auf eine Art und Weise, die problematisch wäre. Naja, doch, es ist schon problematisch, aber natürlich nicht so, wie es für eine Person ist, die wirklich eine DIS-Diagnose hat. Also versteht mich nicht falsch, ich hadere definitiv mit psychischen Herausforderungen. Das kann ich nicht mehr länger leugnen. Sie sind… nun ja, einfach anders. Damit das klar ist: Ich will mich nicht… Ach, meine Güte, vor wem rechtfertige ich mich hier eigentlich? Das liest wahrscheinlich sowieso keine:r.
Zurück zu dem, was ich ursprünglich teilen wollte. Ich bin nämlich bereits in meinen Kinderjahren wie eine sehr engagierte Schauspielerin immer wieder in die verschiedensten Rollen geschlüpft. Manche Rollen wurden mir vom Leben ganz natürlich zugespielt. Andere habe ich angenommen, weil ich dringend das Geld brauchte und wieder andere wurden mir unbarmherzig aufgedrückt. Den meisten meiner Rollen hingegen eiferte ich – von meiner Euphorie geblendet – nach, als wäre es die eine, die mir endlich den lang ersehnten Oscar beschert.

Vorhang auf!

Erster Akt – Die Natürlichen

Die natürlichen Rollen finde ich, in der Retroperspektive betrachtet, am schwierigsten zu erkennen. Ziemlich absurd, nicht? Ich meine zu glauben, dass ich auf die natürlichste Weise eine tollpatschige Tochter, eine nervige kleine Schwester und eine einfühlsame Freundin war und bin. Seit meiner ADHS-Diagnose und meinem Aufenthalt in einer Tagesklinik, habe ich endlich auch das Gefühl, ein in meiner Unvollkommenheit vollkommener Mensch zu sein. Dass ich, um so zu empfinden, erst mal einen Abstecher ins «Tal der Schwarzmalerei» machen musste, finde ich nach wie vor erschreckend. Ich mutmasse jedoch, dass ich nicht die Einzige bin, der es so geht. Dieses Wissen macht es für mich schlimmer und leichter zugleich. Und überhaupt: Wer entscheidet schon über Un-/Vollkommenheit?


Zweiter Akt – Die Geldbringenden

Hochzeits- und Babyfotografin, sowie Backwarenverkäuferin oder Serviceangestellte, war ich, weil ich auf das Geld angewiesen war. Genauso überlebenswichtig war auch meine Rolle als unermüdliche Care-Arbeiterin meiner Klassenfreund:innen. Das konnte ich und es wurde geschätzt. Ohne diese Rolle, wäre meine Schulzeit bedeutend einsamer gewesen. Weiter geht’s mit der rebellischen Rolle. Sie diente dazu, meine verletzten und verunsicherten Gefühle zu überspielen. Während vielen Jahren, erfuhr ich Diskriminierung und Mobbing von Lehrern, Mitschülern und später sogar von Vorgesetzten. Da half Gras und Alkohol ein wenig, um die Schmerzen zu betäuben. Last but not least: die People-Pleaserin. Getrieben von meiner Harmoniesucht, habe ich viele meiner Grenzen überschritten oder überschreiten lassen. Ich war nie nachtragend und sah den Fehler zuerst bei mir selbst. Nur so konnte ich sicher sein, dass ich genug war und nicht gegen etwas Besseres ausgetauscht wurde. Diese Rolle verfolgt mich teilweise immer noch. Vermutlich heisst es deshalb Harmoniesucht.


Dritter Akt – Die Aufgedrängten

Ach, wo soll ich da nur anfangen? Da war die Unterwürfige, die in Anwesenheit ihres Vorgesetzten, sein Büro putzen, ihm Kaffee bringen und sein privates Auto saugen musste. Dann war da die unkomplizierte Liebhaberin. Immer auf der Hut, nicht zu emotional zu sein. Sonst ist frau nämlich anstrengend. Und dann die Funktionierende, die keine Schwächen kennt, um in unserem System nicht unterzugehen. Die zufrieden Nickende, weil protestieren sich nicht gehört. Die perfekt rasierte, geschminkte, angezogene und trainierte Frau – hätte ich sonst einen Wert? Die, die sich nicht schert, was andere von ihr denken, obwohl das Gegenteil der Fall ist. Die, die so tut, als wüsste sie immer genau, wovon die Rede ist, nur um nicht als ungebildet oder dumm abgestempelt zu werden. Die, die mit versteinerter Miene und aufrechtem Gang durchs Leben schreitet, um das innere Zusammenbrechen so lange wie möglich zu verzögern. Dann die, die schweigt, weil laut sein keine Tugend ist. Oh, und fast vergessen: Die Vergessene. Für die es „schon okay“ ist, wenn nicht an sie gedacht wird. Sie denkt schliesslich auch nicht an sich selbst, warum sollten es also andere tun.

Dieser Akt könnte wohl endlos weitergehen. Ich bin überzeugt, dass du viele dieser Rollen, nur allzu gut selbst kennst. Stimmt’s?


Vierter Akt – Die Strebenden

Hier kommen sie, die von mir meist gefürchtetsten Rollen. Das ist so, weil es die Rollen sind, bei denen urplötzlich ein Schalter kippen konnte und ich, wie hypnotisiert, in einen Autopiloten-Modus fiel. Ohne den Hauch einer Ahnung was gerade passierte. Beispielsweise musste ich unbedingt eine Künstlerin sein. Inspiriert durch diese eine Person, die so cool anders war. Ich musste die Person sein, die anderen ihre Schmerzen nimmt. Inspiriert durch diese eine Person, die mir einst meine Schmerzen nahm. Ich musste sehnlichst eine Kämpferin sein. Inspiriert durch diese eine Person, die ich so bewunderte. Ich musste eine Siegerin sein, um derselben Person zu zeigen, wie weit ich gekommen bin. Ich musste eine ganz neue Ausbildung anfangen, inspiriert durch diese eine Person, die so viel Potential in mir sah. Ich musste die Frau fürs Leben sein, geliebt von dieser einen Person, die es wirklich ernst mit mir meinte…

Wenn ich wirklich ehrlich mit mir selber bin, schreibe ich in diesem Akt nicht von den Rollen. Ich schreibe von der Rolle. Eben von der, die so verzweifelt gefallen musste. Sie musste geachtet und respektiert werden. Ungerührt davon, dass der Preis dafür bedeutete, sich vollends in der Rolle zu verlieren. Schlussendlich ist und bleibt es aber genau das: eine Rolle. Oder? Wie ihr vielleicht erkennt und das um einiges früher als ich, hatte ich immerzu das Gefühl etwas zu müssen. Selbst wenn das nie von mir verlangt wurde. Denn in vielen Fällen, war es ich allein, die diese Erwartungen an sich stellte. Es hat schmerzend lange gedauert, um zu erkennen, dass es in meinem Leben nicht darum gehen soll, etwas zu müssen. Vielmehr wünsche ich mir, dass es darum geht zu wollen.

Du denkst dir jetzt vielleicht, dass das alles doch sehr gewöhnlich ist. Dass alle Menschen auf ihrem persönlichen Weg viele verschiedene Gestalten annehmen. Das lehrt uns wichtige Lektionen. Dadurch werden wir reifer und gewinnen an Erfahrung. Womöglich hast du recht. Wäre da nur nicht dieses beklemmende Gefühl, dass ich bis heute noch nie unverfälscht ich gewesen bin. Ziemlich dramatisch – schon klar. Doch sind es existierende Gefühle von mir und ich komme nicht umhin mich zu fragen: wer ist die Person hinter der Maske? Und genau das, gilt es jetzt herauszufinden. Denn beim Gedanken, den Rest meines kurzen Daseins damit zu verbringen, in irgendwelche Rollen zu schlüpfen, wird es eng um meine Brust. « Dann hör endlich mit der Maskerade auf?! », denkst du dir? Ja, auch da hast du nicht unrecht. Doch was, wenn mir das Rollen aneignen unterdessen vertrauter ist als das eigentliche ich?

Anderer Gedanke: Nehmen wir mal an, es geht gar nicht um die Rollen per se und viel mehr darum, wer die Rollen schreibt. Dann sollte ich diejenige sein, die sie schreibt. In meinem Leben sollte das nur ich sein. Ich bin die Autorin und Schauspielerin zu gleich und habe die ganze Kontrolle. Wow. Das finde ich gut. Aber halt! Was passiert mit den wenigen bisherigen Rollen, die ich vielleicht gar nicht mehr ablegen möchte? Obwohl sie jemand anderes für mich geschrieben hat. Sind es in diesem Fall überhaupt noch Rollen? Wird so die Rolle zu meinem wirklichen ich? Oder sind es von Anfang an ganz „normale“ und von mir bewusst gewählte Masken? Fuck. Das würde bedeuten, dass meine gesamte Wut-Tirade einzig und allein mir selbst gilt. Ich bin verwirrt. Was ist nun echt und was ist unecht? Was falsch und was richtig? Was normal und was unnormal? Wo ist oben und wo unten? Ist sowieso alles einfach eine Illusion? Das ganze Leben?

Stopp.

Vorhang zu! Vorhang zu!!

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